Shirin war ca. ein Jahr bei mir..es war wieder Ostern, als mich die „Windhundleute“ anriefen, um mir mitzuteilen, dass sie einen weiteren Greyhound hätten, der, bezüglich Ueberlebensmöglichkeit, einen Grenzfall darstellte. „Hannibal“ stammte aus dem Tierheim Mulhouse in Frankreich. Der Hund sei schon 9 Jahre alt und früher ein sehr verwöhnter „Showgrey“ gewesen. Er war für die Rennbahn viel zu gross (WH 85 cm), aber sein Körper hätte das perfekte Aussehen und die perfekten Proportionen. So sei der Hund mit seinen Besitzern von Ausstellung zu Ausstellung gereist und zwischendurch musste er für Greyhoundnachwuchs sorgen. Das ging so lange, bis die Ehescheidung der Besitzer dazwischenkam. Da wurde er kurzerhand im Tierheim deponiert. Einige Leute, die das Tierheim Mulhouse kennen, erklärten mir, dass dort eher desolate Zustände herrschten. Das war auch der Grund, dass die Organisation, die sonst fast ausschliesslich Hunde aus Spanien und Italien rettete, eine Ausnahme machte und diesen Hund aus dem französischen Tierheim befreite.
Der Gesundheitszustand des Hundes war jedoch sehr schlecht als er das Tierheim verlassen durfte. In Mulhouse wurde ihm sein langer Windhundschwanz zweimal gebrochen, weil er ihn, anstatt zwischen die Beine zu klemmen, zu lange ausgestreckt in der Türe „zurückgelassen“ hatte, so klein war sein Zwinger. Eigentlich war Hannibal nämlich ein stolzer Bursche. Absolut nicht ängstlich, ursprünglich verwöhnt und nur die feinste Behandlung war früher gut genug für ihn. Deshalb konnte er sich an die schlechten Haltungsbedingungen absolut nicht anpassen. Die Retter sagten mir, dass er inzwischen schon ein bisschen besser dran sei, als direkt nach dem Tierheimaufenthalt. Er hatte inzwischen 6 Monate auf einem Pflegplatz verbracht und man hatte sich dort intensiv um ihn gekümmert. Auch wurde er während dieses halben Jahres im Internet angepriesen, konnte jedoch niemanden für sich motivieren. Mit seinem dunkel gestromten Fell und dem eher finsteren Gesicht und seiner Grösse, wirkte er zeitweise ein bisschen bedrohlich.Jedenfalls baten mich die Vereinsmitglieder, die mir den Hund brachten, um eine weitere Entscheidung. Entweder könne ich eine baldige Genesung garantieren, ansonsten müsse man diesen vormals verwöhnten „Macho“, der jetzt irgendwie seinen Lebensmut aufgegeben hatte, erlösen.
Hannibal hatte seit längerer Zeit blutigen Durchfall, der auch mit Diät und Medikamenten jeweils nur kurzfristig besserte. Zudem litt er unter einer partiellen Lähmungserscheinung der Hinterhand, die den Ursprung im Rücken hatte und die dazu führte, dass er beim urinieren das Bein nicht mehr heben konnte. Der ganze Urin lief dann jeweils auf die Vorderbeine und als Windhund, dem Sauberkeit enorm wichtig ist, leckte er in minutiöser Feinarbeit jeweils sofort die ganze Bescherung von den Vorderläufen weg. Das verlangsamte die Spaziergänge mit Hannibal anfänglich enorm.
Ja, wir begaben uns bald einmal auf gemeinsame Spaziergänge, der Hannibal, die Shirin und ich.
Shirin, die immer dabei war, wenn Windhunde in die Praxis kamen, vollführte einen Freudentanz, als sie den (ursprünglich) so strammen Burschen erblickte. Sie hatte die Entscheidung in Sekundenschnelle getroffen. Hannibal blieb bei uns und war der, von Shirin lange ersehnte, zweite Windhund.
Jetzt hiess es, mit allen Mitteln dem Durchfall Herr zu werden. Wirklich mit allen Mitteln, denn die Schulmedizin und die industrielle Diät hatten bis jetzt wenig gebracht. Hannibal zeigte zwar wenigstens Appetit, war er doch industrielles Futter gewohnt. Auch Belohnungen nahm er gerne entgegen. Und er zeigte einen wunderbaren Grundgehorsam, allerdings musste man ihm die Kommandos auf Französisch erteilen. Und zuerst musste ich herausfinden, welches allenfalls die Anweisungen waren, die er gelernt hatte. Ich konnte ihn sofort frei laufen lassen, war er doch anfänglich seines Rückenleidens wegen nicht wirklich schnell.
Jetzt kam der Augenblick, in dem ich an meine Kollegin in Bülach dachte, mit der ich früher in einer Klinik zusammengearbeitet hatte. Sie war schon früh zur Homöopathie „konvertiert“ und führte eine eigene homöopathische Praxis. Schon oft hatte sie mir angeboten, ich könne ihr genaue Angaben über irgendwelche Problemfälle mitteilen und sie würde dann das entsprechend wirksame Mittel für den Fall erarbeiten.
Da man mit Hannibal so am Anschlag war, musste ich sie jetzt sofort um Hilfe beten.
Ich musste nur wenige Angaben machen, bis sie sehr entschlossen sagte: Das ist ein Typ „Natrium muriaticum“. Sie schickte mir die entsprechenden Globuli. Und die Erfahrung mit Hannibal, der massiven Verbesserung seines Gesundheitszustandes mit den ihm entsprechenden Globuli war entscheidend dafür, dass ich mich später auch noch für ein Homöopathiestudium entschieden habe.
Ich habe für Hannibal dieselben, für mich eher aufwändigen Mahlzeiten gekocht, wie für Shirin. Mit gekochtem Fleisch, gekochten Karotten und diversen Zusätzen, wie Reis, Hirse, Teigwaren, auch mal Kartoffeln etc. Als Zusätze erhielten beide Hunde Kohle, Hefe und Lactoferment. Shirin zeigte sofort einen gesegneten Appetit von dem Augenblick an, als sie in Hannibal einen „Mitesser“ hatte. Dank der Diät und den Globuli war der Durchfall bald einmal gebannt, Hannibal wurde stärker und fröhlicher, aber auch schneller und unabhängiger. Auch die Hinterhand wurde mit der Zeit wieder fast normal brauchbar, wobei sicher auch die „Tellington touch“ Behandlung durch die Kollegin im Hundesport viel dazu beigetragen hat.
So nannte ich nun ein glückliches Greyhoundpaar mein Eigen und musste mich auf die Socken machen, um den beiden, die nun richtig aufblühten, ausgedehntere Spaziergänge auf dem Land zu bieten.
Beide haben sich nämlich lange Zeit in der Stadt nicht versäubert. Fürs „grosse Geschäft“ musste man immer Auto fahren. Also sah man uns oft in Rhodersdorf, an der Birs, auf dem Bruderholz und am allermeisten auf der Bottmingerhöhe.
Hannibal, inzwischen ein schöner, distinguierter Herr geworden, meldete inzwischen Ansprüche an auf sämtliche Hündinnen, die uns entweder begegneten, oder die seine Nase ortete. Hündinnen waren ja früher, von den Ausstellungen abgesehen, sein Lebensinhalt gewesen.
Das führte erstens dazu, dass er einige Rüden als Konkurrenz ansah und somit ca. jeden fünften Hundemann, dem wir begegneten, in den Schwanzansatz biss. Meistens floh der so attackierte und es gab keine Verletzungen. Aber die Besitzer konnten sich der Begeisterung enthalten…
Was jedoch viel mühsamer war, Hannibal begann sich selbständig auf Freiers Füsse zu begeben. Vor allem auf der Bottmingerhöhe gingen wir meist getrennt spazieren und unser Treffpunkt war dann erst wieder das Auto, nachdem ich jeweils bis zu einer halben Stunde gewartet hatte. Es ging nicht lange, da trug der Hund den Uebernamen „Casanova der Bottmingerhöhe“.
Shirin begann sich wieder zu langweilen, da sie die Spaziergänge ja nun von Neuem mit mir alleine abolvieren musste.
Bald einmal überspannte Hannibal den Bogen, indem er zwei ältere Leute umwarf, die eine läufige Schnauzerhündin an der Leine führten. Die Hündin befreite sich und verschwand mit Hannibal in den Wald. Als die beiden nach einiger Zeit wieder zurückkamen, fragte ich die Besitzer, ob ich nun die Hündin „abspritzen“ solle, das heisst, ihr Injektionen verabreichen soll, die zu einem frühen Abort führten. Sie antworteten, dass die Hündin heute schon mit einem Rüden abgehauen sei und sie verabschiedeten sich sehr unwirsch. Ob da später irgendwann eine bunte Welpenschar geboren wurde, das entzieht sich meiner Kenntnis.
Aber Hannibal hatte nun nichts mehr zu lachen. Spätabends bekam er in der Praxis eine starke Narkose und ich habe ihn kurzerhand kastriert. Das wurde mir daraufhin von den Männern im Hundesport sehr übel genommen und sie drohten mir, dass keiner von ihnen je wieder meine Praxis betreten würde.
Es ist ja nie sicher, ob so eine späte Kastration überhaupt noch wirkt. Vor allem bei einem Hund, der zeitlebens als Deckrüde „gearbeitet“ hat.
Bei Hannibal hat es fast verheerend gewirkt. Der arme Kerl hatte von nun an keinen Lenbensinhalt mehr, keine Lebensfreude, keine Interessen.. er war einfach durch und durch total „abgelöscht“.
Es erforderte enorm viel Motivationsarbeit, vor allem im Hundesport und mit Shirin zusammen, um Hannibal mittels sogenannter „Plauschparcours“ wieder etwas Lebensfreude zu vermitteln. Mit der Zeit habe ich dann entdeckt, dass der grosse Grey lieber in der Stadt spazieren geht, als in Feld und Wald. Vielleicht war das auch ein Andenken an sein früheres Leben.
Somit haben wir unsere Spaziergänge mehr auf belebtere Gegenden verlegt. Das „Nachtigallenwäldeli“, der Weg von der Heuwaage zum Zolli und die Grün 80 wurden unser neues Revier. Für Shirin war das jetzt auch in Ordnung, wobei sie sich vorher lange Zeit geweigert hat, durchs „Nachtigallenwäldeli“ zu spazieren.
So verging eine kurze Zeit harmonischen Miteinanders, bis das Jahr 2003 mit seinem wahnsinnig heissen Sommer anrückte. Während Hannibal bisher ein absoluter Wärmefreak war, der in der Praxis immer auf einem Liegestuhl an der Heizung schlief und weit über die winterlichen Temperaturen hinaus einen Mantel benötigte, begann er früh, unter der Hitze zu leiden. Zuhause hatte er sich ja schon früh angewöhnt, mich aus dem Bett zu werfen.Er quetschte sich ganz der Wand entlang ins Bett, streckte daraufhin seine langen Beine aus mit dem Rücken gegen mich und schon war ich fast draussen. Im Halbschlaf habe ich dann jeweils in das andere Bett im andern Zimmer gewechselt….
Im heissen Frühling 2003 wurde Hannibal nun plötzlich herzkrank.
Greyhounnds neigen ja zu sogenannten „Sportlerherzen“, das heisst ihre Herzen sind zu gross und müssen dauernd eine Mehrleistung vollbringen. Bei Hannibal hörte ich ein Herzgeräusch und zeitweise sammelte sich Wasser in seinen Lungen, was zu husten und würgen führte, vor allem nach längerem liegen. Von nun an konnte ich Hannibal nur noch nachts und allenfalls frühmorgens spazierenführen. Zeitweise übernachteten wir im kleinen Innenhof der Praxis und der Hund buddelte sich unter der Tanne eine Höhle, in der Absicht, etwas Kühlung zu erlangen. Die schnell gekaufte Klimaanlage für die Praxis war Hannibal unangenehm wegen des Luftzuges. Während der Nachtspaziergänge durch die Stadt, wollte uns Shirin nicht begleiten. Für sie war die Nacht zum schlafen da. Schon zu den frühen Morgenspaziergängen musste ich sie anfänglich ja zwingen.
Aber zwei andere „Nachtschwärmer“ wurden zu unseren treuen Begleitern. Die Blumenfrau und ihr „Tschippeli“. Gleich neben der Praxis wohnte eine ältere Frau, die nachts durch die Etablissements ging, um Rosen zu verkaufen. Ihr hatte ich vor einiger Zeit ein kleines weisses Hündchen vermittelt, dessen Besitzerin verstorben war. Das „Tschippeli“ wurde zwar dank der vielen guten Häppchen in den Restaurants immer dicker, aber unermüdlich begleitete es die Rosenfrau auf ihren nächtlichen Rundgängen durch die Stadt, oder sass mit ihr an ihrem „Miniblumenstand“ im Parkhaus. So haben dann wir vier im Sommer 2003 eine spezielle Art „Nachtleben“ geführt. Mit der Blumenfrau zusammen und auch mit dem grossen Hund traute ich mich auch Orte zu durchqueren, die ich sonst, vor allem nachts, als eher gefährlich eingestuft hätte. Es war eine besondere, aber auch für mich ermüdende und sehr gesundheitsschädigende Erfahrung. Musste ich doch den ganzen Tag arbeiten und kam nur noch zu sehr wenig Schlaf.
Die Hitzewelle hat ja 2003 schon im Mai begonnen und erreichte im Juni einen, jedenfalls in der Stadt, fast unerträglichen Höhepunkt. So kam es dann, dass Hannibal an einem Nachmittag nicht mehr aufstehen konnte und unter schweren Erstickungsanfällen litt. Es war gerade Donnerstagnachmittag und die Praxis war geschlossen. Schweren Herzens traf ich die Entscheidung, dass Hannibal nun die Regenbogenbrücke beschreiten müsse. Wie selten ein Hund, hat mir Hannibal gezeigt, dass er mit dem Beschluss einverstanden war, indem er mir den rechten Vorderlauf entgegenstreckte und die Augen schloss. Er konnte sehr friedlich einschlafen.
Für Shirin jedoch bedeutete der Verlust von Hannibal den Weltuntergang.
Shirin hatte ab sofort auch praktisch sämtliche Lebensfunktionen eingestellt. Sie war dabei bei der Euthanasie und wollte die Praxis danach nicht mehr verlassen. Sie trank nichts, sie ass nichts, sie bewegte sich nicht und sie hatte auch keine Ausscheidungen. Wenn sie zwischendurch in Schlaf fiel, hat sie wild geträumt und auch immer wieder geknurrt. Das war mir vorher bei ihr nie aufgefallen. Nach zwei Tagen völliger Inaktivität musste ich ihr eine Infusion legen, die ich immer wieder mal eine Stunde laufen liess. Der Hund bewegte sich ja nicht. Die Hitze hatte sich noch nicht gelegt, im Gegenteil es wurde immer noch schlimmer. Nach weiteren zwei Tagen, beziehungsweise es war wieder nachts, beschloss ich, Shrin jetzt einfach auf ihre vier Beine zu stellen, ihr eine Art Brustgeschirr zu basteln und sie damit ins Freie zu zwingen.
Als wir uns mit Mühe und Not durch das grosse Tor bei der Praxis gequetscht hatten, sahen wir auf dem Grasstreifen auf einem Bänkli zwischen Nebenstrasse und Hauptstrasse die Blumenfrau sitzen mit dem Tschippeli. Obwohl Shirin ja nie anlässlich der nächtlichen Spaziergänge dabeigewesen war, kannte sie die Frau und ihr Hündchen von freudigen Begegnungen tagsüber und sie liebte auch die Naschereien, die die Blumenfrau oftmals in den Restaurants erhielt und dann an die Hunde verfütterte.
Shirin also erblickte die Blumenfrau auf dem Bänkli. Die Hündin stellte die Ohren auf und lief nun freiwillig in Richtung der beiden. Es lagen schon Süssigkeiten auf dem Bänkli und Shirin bewegte sogar ihren Schwanz hin und her, eher eine Seltenheit bei einem Grey. Ich brach in Tränen aus, denn jetzt war Shirin vorerst gerettet und all die Erlebnisse und die Müdigkeit der verganngenen Monate hatten ihren Preis. Lange sassen wir zu viert auf dem Bänkli und schauten dem Autoverkehr auf dem Heuwaagviadukt zu. Hannibal hat sicher gesehen, dass Shirin nun seine Stelle an der Seite der Blumenfrau und dem Tschippeli eingenommen hat .
Shirin war zwar jetzt über den Berg, aber sie wurde nicht mehr zu der glücklichen, sicheren, lebensfrohen Hündin, die sie mit Hannibal zusammen gewesen war.
Sie zeigte sich wieder eher passiv und ängstlich, wie zuvor als sie noch allein bei mir lebte.
Ich brauchte dieses Mal nicht lange, um mich zu entscheiden: Wir mussten Shirin einen neuen Partner suchen….
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